„Um groß zu werden – in jeglichem Sinne – braucht sie eine Frau, die größer ist als sie“ – zu Affidamento und Mentoring

Wie kann der Affidamento-Ansatz für Mentoring produktiv gemacht werden? Frauen brauchen eine Vermittlerin, um sich in der Welt durchzusetzen. Frauen gewinnen Wissen und Freiheit, indem sie Differenzen, ihr Begehren nach Mehr, Autorität und Austausch untereinander wertschätzen.

Lena Laps:
„Um groß zu werden – in jeglichem Sinne – braucht sie eine Frau, die größer ist als sie“ – Zu Affidamento und Mentoring

Im Zusammenhang meiner Arbeit für Mentoringprogramme erinnere ich mich gerne an einen Ansatz aus den 80er Jahren: Der Ansatz ist in Deutschland als „affidamento“ oder auch als Differenzansatz der Mailänderinnen bekannt geworden. Affidamento beinhaltet Begriffe wie fede (Glaube), fedeltá (Treue), fidarsi (vertrauen), confidare (anvertrauen) und bedeutet anvertrauen, sich anvertrauen. Konkreter beinhaltet das Konzept, dass eine welterfahrene Frau einer anderen Frau Wissen und Zugang zur Welt vermittelt.
Auf diesem Grundgedanken beruhen Mentoringkonzepte; insofern kann der Affidamento-Ansatz für Mentoring produktiv gemacht werden.

Wer sind „die Mailänderinnen“?
Es sind einmal die Frauen um den Mailänder Frauenbuchladen – die Frauen der LIBRERIA delle donne di Milano. (www.libreriadelledonne.it) Dieser Buchladen ist mehr als ein Buchladen, es ist ein Ort philosophischer und politischer Praxis, er existiert seit 1975. Zeitweise gehörten zum Kreis der Libreria wohl mehr als 6o Frauen. Eine weitere wichtige Gruppe ist die Philosophinnengruppe DIOTIMA aus Verona, eine philosophisch orientierte Gruppe, die 1983 von etwa 12 Frauen gegründet worden ist. (www.diotimafilosofe.it)
Eine Autorität in DIOTIMA war die Mailänder Professorin Luisa Muraro.
In Deutschland haben insbesondere die Philosophinnen, Journalistinnen und Theologinnen Andrea Günter, Dorothee Markert, Antje Schrupp und Ulrike Wagener den affidamento-Ansatz bekannt gemacht und weiter entwickelt.

Grundlegende Lektüre ist das 1987 von den Frauen der LIBRERIA delle donne di Milano veröffentlichte Buch: „Wie weibliche Freiheit entsteht.“ (Libreria 1988)
Um deutlich zu machen, wie die Mailänderinnen reflektieren und schreiben, möchte ich sie ausführlicher zu Wort kommen lassen:
Die Ereignisse und Ideen, die wir hier darstellen, stammen aus den Jahren 1966 bis 1986 und hauptsächlich aus Mailand. Meist werden sie unter dem Terminus „Feminismus“ eingeordnet. Wir möchten ihnen einen anderen Namen geben, um ihren wahren Sinn ans Tageslicht zu bringen. Dieser Name ist „Genealogie“. In diesen Jahren haben wir miterlebt, daß Frauen eine eigene Geschichte erworben haben und sich in der Öffentlichkeit auf die Frauen vor ihnen, auf ihre weibliche Herkunft, berufen konnten.
Das sagen wir nicht ohne Emotionen; auch deshalb, weil das Ganze noch keine festen Umrisse hat. Wir sind nicht sicher, ob wir mit der historischen Rekonstruktion in diesem Buch
wirklich das erreichen, was wir suchen, nämlich uns in eine Generationenfolge der Frauen einzuschreiben. Es ist nicht auszuschließen, daß sich unser Experiment später nur als einer der vielen Wechselfälle im zerbrechlichen Konzept „Frau“ erweisen wird.“ (Libreria 1988, S.17)

2010 © Lena Laps www.lena-laps-coaching.de

Mich hat die Frage umgetrieben, inwieweit zentrale Gedanken der „Mailänderinnen“ für Mentoring produktiv gemacht werden können und möglicherweise auch eine weitere Facette für eine konzeptionell-theoretische Begründung von Mentoring sein können. Aus den sehr assoziativ geschriebenen Texten habe ich fünf zentrale Begriffe und Thesen filtriert: Differenzen bzw. Ungleichheiten, Autorität, Begehren, Vermittlung und Freiheit. Jede von Ihnen wird mit diesen Begriffen inhaltlich etwas assoziieren. Was wird nun in der Theorie der italienischen Philosophinnen damit verbunden?
Der Begriff Differenzen bezieht sich erstens auf das Geschlecht bzw. die Geschlechter und zweitens auf Ungleichheiten unter Frauen.

Zur Geschlechterdifferenz
Frauen und Männer sind im Ansatz der differenza sessuale / der Geschlechterdifferenz sozusagen ein real existierender Teil der Welt –Zweigeschlechtlichkeit wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wie beispielsweise in einigen poststrukturalistischen Ansätzen oder in queeren Theorien. Die Tatsache, dass es Frauen und Männer gibt, ist dabei weniger interessant als die Bedeutungen, die dem Frausein und Mannsein zugesprochen werden – sowohl Bedeutungen, die bereits existieren und als auch vor allem Bedeutungen, die gegenwärtig und in Zukunft entwickelt werden können.

Die Geschlechterdifferenz beinhaltet, dass Frauen unabhängig von Männern und androzentrischen Normen Wert und Bedeutung haben. Frauen als ‚das andere Geschlecht’ werden nicht in Umkehrung herrschender Normen idealisiert, es werden keine Geschlechter-Hierarchien mit umgekehrtem Vorzeichen gebildet. Für die italienischen Differenztheoretikerinnen ist die Geschlechterdifferenz eine „irreduzible Differenz“, in dem Sinne, dass „das Frausein dem Mannsein weder untergeordnet noch angeglichen werden“ kann (Libreria: 1988, S.147). Geschlechter sind demnach nicht miteinander vergleichbar und auch im Verhältnis zueinander nicht hierarchisierbar. Das „zerbrechliche Konzept ‚Frau’“ soll nicht im Verhältnis zum ‚Mann’ entwickelt werden, sondern unabhängig von tradierten Zuschreibungen. In diesem Zusammenhang ist es ein Hauptanliegen, symbolische und gesellschaftliche Existenzweisen zu entwickeln, in der Frauen eigene Lebensentwürfe realisieren können.
Und diese Lebensentwürfe, Wünsche, Vorstellungen von Frauen sind bekanntlich durchaus unterschiedlich – ebenso wie die Lebenssituationen von Frauen unterschiedlich sind.

Differenzen / Ungleichheiten unter Frauen als Potenzial
Die „Mailänderinnen“ haben von Anfang an Unterschiede und Ungleichheiten unter Frauen thematisiert und sich dagegen gewandt, dass „Wir Frauen“ alle gleich sind und ‚nur’ noch gegebenenfalls den Männern rechtlich und sozial gleichgestellt werden wollen oder sollen.
Die Frauen sind ein Geschlecht, das einen Reichtum an Verschiedenheiten in sich birgt, und sie haben, genau wie die Männer, unterschiedliche soziale Hintergründe. Der Kampf der Frauen, der der weiblichen Differenz zu Existenz, Wert und Freiheit verhelfen soll, muß also von einer Vielfalt von Interessen, Lebensläufen, Ausdrucksformen und Erfahrungen ausgehen. Die Frauen, die nach dem Gesetz rufen, können den Reichtum an weiblichen Lebensentwürfen (allein leben, in der Familie leben, Kinder bekommen oder nicht, Suche nach Selbstverwirklichung in der Gesellschaft über Arbeit oder über die Familie usw.) nicht berücksichtigen, denn die Form des Gesetzes ist notwendigerweise allgemein und abstrakt “ (Libreria: 1988, S.74).
Hier wird eine wichtige Perspektive und Position der Mailänderinnen deutlich: Sie wenden sich gegen eine vorrangige Orientierung an rechtlichen Strategien und gegen eine gesetzgeberische Gleichstellungspolitik. Ihr Anliegen sind wertschätzende Beziehungen unter Frauen und dabei insbesondere die Anerkennung von unterschiedlichen Lebenssituationen, Lebensweisen und Möglichkeiten.
Wie nutzen die Mailänderinnen Ungleichheiten zwischen Frauen als Potenzial?
Sie gehen davon aus, dass es in Beziehungen zwischen Frauen ein MEHR gibt – z.B. ein Mehr an Wissen und Erfahrung. Dieses Mehr ist nicht von absoluter Bedeutung, es ist relativ und existiert in Beziehung zu einer, die ein Begehren nach diesem spezifischen Mehr entwickelt, die einen Mangel empfindet. Mehr und Mangel müssen korrespondieren, um von Bedeutung zu sein.
„…der Mangel, den eine Frau einer anderen gegenüber empfindet“ ist nicht „Schuld der anderen, sondern Wunsch nach etwas anderem…“ (Libreria: 1988, S.118) und kann sie zu einem Mehr führen, zu dem sie selbst auch fähig ist (Libreria: 1988, S.130) An anderer Stelle bezeichnen die Mailänderinnen Mangel als „ das Mehr, das in einem nicht verwirklichten Begehren enthalten ist“ (Libreria: 1988, 132).
Hier drängen sich Parallelen zum Mentoring auf: Im Mentoring werden Ungleichheiten unter Frauen produktiv genutzt. Wenn MEHR – z.B. ein Mehr an Erfahrung, Fach- und persönlichen Kompetenzen – und MANGEL – als Wunsch nach Mehr – korrespondieren, oder anders gesagt: wenn der Matchingprozess gelungen ist, können sich Potenziale „weiblicher Freiheit“ entwickeln.
Ungleichheiten werden nicht als hierarchische Machtbeziehung begriffen, sondern als produktives ‚Empowerment’ – als Macht, etwas miteinander zu tun, in Bewegung zu setzen, zu schaffen. Dabei ist – und das mag überraschen – der Begriff der

Autorität wichtig.

Autorität ist ja im Deutschen kein ‚gefälliger’ Begriff. Autorität wird im Alltäglichen mit Machtstrukturen, Machtpositionen und ‚Macht über’ assoziiert.
Im Konzept der Differenztheoretikerinnen allerdings ist weibliche Autorität notwendig, um Freiheit zu entwickeln. „Es ist wichtiger, Lehrmeisterinnen zu haben, als anerkannte Rechte zu besitzen. … Eine Frau braucht eine positive weibliche Autorität, wenn sie ihr Leben in einem Entwurf der Freiheit leben…will.“ (Libreria: 1988, S.25)

Drei Kriterien sind wesentlich:
Autorität ist erstens an eine bestimmte Person gebunden, nicht unbedingt an formale Positionen oder Funktionen. Sie ist zweitens inhalts- und kontextabhängig und wird drittens immer wieder neu auf persönlicher und freiwilliger Basis ausgehandelt. Vor allem der letzte Punkt unterscheidet sie von Macht. Autorität habe ich nicht oder bin ich nicht per se, Autorität wird mir von Person zu Person zugesprochen, und sie kann nur da zugesprochen werden, wo Ungleichheiten anerkannt werden.
Autorität entsteht in einer Tauschbeziehung zwischen einer Person mit einem spezifischen Mehr und einer Person mit einem spezifischen Begehren.
Sich mit Autorität in eine Beziehung einzubringen, beinhaltet auch, urteilen zu können, Position zu beziehen, konfliktfähig zu sein – Fähigkeiten, die nicht zuletzt von Frauen in Führungspositionen gefordert werden.
„Eine Frau kann und muß die anderen Frauen beurteilen. Eine Frau kann und muß sich mit dem Urteil der anderen Frauen auseinandersetzen.“ (Libreria: 1988, S.172) Hier wird der Aspekt des wechselseitigen Forderns betont. Autorität als Beziehungsqualität ist eine Seite dieser Interaktion – ihr entspricht auf der anderen Seite das Begehren, ebenfalls ein etwas ‚merkwürdig’ altmodisch klingender Begriff im Deutschen.

Begehren

„Begehren“ ist die deutsche Übersetzung für das italienische „Desiderio“. „Desiderio“ hat in der italienischen Alltagssprache wohl eine breitere Bedeutung als der deutsche Begriff „Begehren“, der meist sexuell konnotiert ist.
Begehren bezieht sich in der politischen Philosophie, von der hier die Rede ist, auf aktive Beteiligung an der Gesellschaft, auf Einmischung. An anderer Stelle reden die Mailänderinnen auch von dem „Willen zu siegen“…oder der „Lust zu siegen…“ (Libreria: 1988, S.134) Begehren ist Antriebskraft zu Veränderung, Begehren motiviert, Anfänge und neue Wege zu suchen, sich in der Welt durchzusetzen, die Welt zu gestalten. Und nicht zuletzt hat Begehren mit der Aneignung von Wissen zu tun.
Was geschieht nun, wenn Begehren und Autorität aufeinander treffen? Wenn „die Frau, die will“ und „die Frau, die weiß“ (Libreria: 1988, S.146) sich begegnen?
Im Idealfall geschieht Vermittlung.

Vermittlung

Für die Autorinnen des Buches „Wie weibliche Freiheit entsteht“ ist Vermittlung zwischen der einzelnen und der Welt notwendig, um Freiheit zu entwickeln. Frauen brauchen eine „…Vermittlungsinstanz, …eine, die uns gleicht, in der wir uns spiegeln und mit der wir uns konfrontieren können; die in der Auseinandersetzung mit der Welt unsere Fürsprecherin, Verteidigerin und Richterin ist“ (Libreria: 1988, S. 180).
Für diese Art der Vermittlung zwischen Frauen haben sie den Begriff affidamento geprägt. Eingangs habe ich affidamento als eine vertrauensvolle Beziehung beschrieben, in der eine welterfahrene Frau einer anderen Frau Wissen und Zugang zur Welt vermittelt.
„Eine Beziehung des affidamento eingehen heißt nicht, sich als Gleiche in der anderen spiegeln, um uns als die bestätigen zu lassen, die wir schon sind, es heißt, der menschlichen Erfahrung der Frau eine Möglichkeit geben, sich zum Ausdruck zu bringen und so in der Welt ihre wahre und große Existenz zu finden.
In der Beziehung des affidamento gibt eine Frau einer andere Frau einen Maßstab für das, was sie kann und was in ihr zur Existenz gelangen will…“ (Libreria 1988: S.182).
Affidamento ist eine asymmetrische aber wechselseitige, immer wieder auszuhandelnde Austauschbeziehung – an bestimmte Personen und Vorhaben gebunden. Ein „vincolo duale” , ein duales Band oder eine duale Verbindung, die oft in Form von Freundschaften geknüpft wird.
Wenn Frauen sich fördern und fordern beinhaltet das: „die Frau, die etwas will“ erwartet etwas, sie stellt Ansprüche. Andererseits zeigt sie auch Dankbarkeit und Wertschätzung, sie schafft dadurch Autorität. Wo Wissen, Erfahrung, Wertschätzung und Dankbarkeit zwischen Frauen zirkulieren entsteht letztlich „weibliche Freiheit.“

Freiheit

Für die potenziellen Wege zur „weiblichen Freiheit“ gibt es keine eindeutigen festgelegten Routen. Auf die Frage, wie der Beziehung zu einer anderen Frau Sinn und Wert verliehen werden kann – oder vielleicht etwas weniger pathetisch: wie Frauen im Duo zum Erfolg kommen können, möchte ich zum Schluss aus einem Diotima Text, der sich auf den Hochschulkontext bezieht, zitieren:
Indem wir Vertrauen setzen in unseren Wunsch, etwas zu sagen, der der Anfang eines neuen Sprechens ist. Indem wir untereinander das Band des Begehrens knüpfen, in einer aneinander interessierten und vertrauensvollen Beziehung, was in dem konfusen und bewegten Meer der Universität nicht immer leicht ist, (…) aber unabdingbar, damit wenigstens hin und wieder geschieht, was Frauen geschehen lassen können: Eine Beziehung Dozentin – Schülerin, Erwachsene -jüngere Frau, die wie ein Kunstwerk ist, das nicht reproduziert werden kann, weil es einmalig und einzigartig ist. Aber es ist eine mögliche Quelle der Inspiration, der Stärke, aus der ein Wissen entsteht, das dann auch für andere da ist“. (Diotima 2002)

Literatur
DIOTIMA: Die Welt zur Welt bringen – Politik, Geschlechterdifferenz und die Arbeit am Symbolischen, Königstein 1999

Diotima: Approfitare dell’assenza, Napoli 2002

LIBRERIA delle donne di Milano: Wie weibliche Freiheit entsteht, Berlin 1988

2010 © Lena Laps www.lena-laps-coaching.de